Kämpfe & Kündigungen

Phinneas Gage beschreibt eine kollektive Aktion gegen Überstunden bei der Post und dem Auf und Ab bei der Organisierung.

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Submitted by team.spuren.cc on April 15, 2024

Harjit stand 15 Minuten lang in der Kälte vor dem Depot, bevor jemand anderes kam. Er hatte einen Stapel Streikpostenschilder neben sich. Die Stöcke ragten aus den Müllsäcken heraus, in denen die Schilder verpackt waren. Auf ihnen sammelte sich langsam Schnee. Es würde ein langer Tag werden, eine halbe Stunde früher auf der Arbeit, um den Leuten ihre Streikpostenschilder und Trillerpfeifen zu besorgen, acht Stunden Arbeit, und dann noch die Überstunden, die anstanden.

Sheila war die nächste, die in ihrem verbeulten, rostigen Pickup-Truck auftauchte. Sie ging auf Harjit zu und versuchte, den letzten Rest einer Zigarette fertig zu rauchen, während sie eines der Schilder aus dem Müllsack zog. Auf dem Schild stand: „Überstunden beenden – mehr Personal einstellen.“ Sie lächelte. Bald war der Parkplatz voller Briefträger*innen, ein Meer aus blau-roten Canada-Post-Uniformen. Sie alle plauderten und redeten, meist über die erzwungenen Überstunden, die bei der Post „Force-back“ genannt wurden.

"Ich habe noch nie von einem Job gehört, bei dem man nach getaner Arbeit noch zwei bis vier Stunden im Dunkeln weiterarbeiten muss."

Harjit stellte sich auf eine Postwanne und sagte: „Ich lebe nicht, um bei Canada Post zu arbeiten, ich arbeite hier, weil ich an ein öffentliches Postamt glaube und ich meine Familie ernähren und kleiden muss. Ich habe noch nie von einem Job gehört, bei dem man nach getaner Arbeit noch zwei bis vier Stunden im Dunkeln weiterarbeiten muss. Wir müssen das Management dazu bringen, dass es aufhört, erzwungene Überstunden einzusetzen, um ein Personalproblem zu lösen. Lasst uns da rein gehen und dem Management sagen, was wir davon halten!“

Bewaffnet mit Krachmachern und Schildern drängte die Menge dann durch die Vordertüren des Depots. Harjit lächelte und hielt die Tür für alle auf, als sie eintraten. Gemeinsam marschierten sie etwa zehn Minuten lang durch die Reihen der Sortierkästen. Sie skandierten und machten Lärm, während die Geschäftsleitung von ihrem Büro aus zusah. Schließlich gingen alle zu ihren Arbeitsplätzen und begannen, die Post des Tages zu sortieren. Später gesellte sich Harjit auf eine Zigarette zu Sheila. „Super gemacht, Harjit. Ich bin froh, dass du diese Aktion angeleiert hast. Die Rede war auch toll“, sagte sie. Harjit lächelte. „Du konntest es nicht sehen, weil du geredet hast, aber das Management hat zugeschaut, und sie sahen zu Tode erschrocken aus“

Ein paar Tage später gingen Harjit und Sheila den Ablauf noch einmal mit den Reihenkapitänen durch. „Okay, Jan, deine Aufgabe ist es, ihnen in die Parade zu fahren, sie wissen, dass du eine Aktivistin bist, und sie werden einfach darüber hinweggehen, was die üblichen Verdächtigen zu sagen haben.“ Dann war Sheila an der Reihe. „Katie, du ergreifst nicht oft das Wort; deshalb haben wir dich ausgewählt, um darüber zu sprechen, wie sich der Force-Back auf dein Kinderbetreuungs-Arrangement auswirkt. Sie werden dir zuhören, weil sie glauben, dass du dich im Allgemeinen nicht viel beschwerst.“ Dann legte Harjit den Forderungsbrief auf den Tisch und schaute einen älteren Mann an. „Diesen Brief sollst du zuletzt vorlesen, Bill. Das funktioniert genauso wie eine formelle Beschwerde oder eine Klage. Jan ist die Unterbrecherin – sie soll verhindern, dass sie das Ganze in ein Management-Meeting verwandeln. Katie liefert die Dokumentation des Problems, und Bill gibt unseren Vorschlag für eine Lösung.“

Als der Rest des Depots draußen ankam, versammelten sie sich als Gruppe mit Schildern und Krachmachern und marschierten wie beim letzten Mal durch die Eingangstür. Diesmal wurde dem Management ganz mulmig zumute, als die große Menschenmenge in einer geraden Linie auf das Büro zumarschierte und sich vor ihnen aufbaute.

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Harjit konnte spüren, wie seine Hände leicht zittern. Der heutige Tag war wie eine Achterbahnfahrt. Alles begann mit der Aufregung, als er eine SMS mit einem Link bekam, in der stand, dass Canada Post Hunderte von Aushilfskräften einstellen wollte – ihre Hauptforderung. Sie hatten gewonnen! Sobald sich die Nachricht verbreitete, herrschte eine unglaubliche Aufregung auf dem Flur, die Leute scherzten und jubelten. Als er jedoch zur Arbeit kam, fand er den Brief von Canada Post auf seinem Schreibtisch, in dem stand, dass sie ein Treffen mit ihm wollten, um die Probleme mit den Angestellten im Depot zu besprechen. Er dachte darüber nach, was seine Frau sagen würde, wenn er wirklich Schwierigkeiten bekäme; eine Suspendierung könnte ihr Budget ein wenig strapazieren, und er fühlte sich kurz nach Weihnachten ziemlich pleite. Was wäre, wenn er gefeuert würde? Daran wollte er gar nicht denken.

Sie hatten gewonnen! Sobald sich die Nachricht verbreitete, herrschte eine unglaubliche Aufregung auf dem Flur, die Leute scherzten und jubelten.

„Bei dir alles okay, Mann?“ fragte Sheila. Harjit nickte und lächelte dünn, als er ihr den Brief reichte. Sie brauchte ihn nicht zu lesen, um zu wissen, was los war. „Wir halten dir den Rücken frei, egal was passiert, Harj.“ Er nickte, fühlte sich aber ziemlich allein.

***

Craig hielt einen Umschlag in der Hand, auf dem in der oberen linken Ecke der Briefkopf der Firma und Harjits Name stand. Die zunehmend kämpferischen Auseinandersetzungen brachten neue Belastungen für das Büro mit sich. Als der lokale Beschwerdebeauftragte spürte Craig das am meisten. Zunächst einmal gab es die sehr reale Tatsache, dass die Verweigerung von Überstunden einen direkten Verstoß gegen den Tarifvertrag darstellte; der Vertrag war diesbezüglich eindeutig, und es gab keine Garantie dafür, dass ein Schlichter zustimmen würde, dass die Überstunden eine echte Bedrohung für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter*innen darstellten. Die Ortsgruppe war immer kämpferisch gewesen, aber die örtlichen Gewerkschaftsfunktionär*innen umgaben sich immer mit einem Hauch von Professionalität. Sie wussten, dass es die Aufgabe des Büros war, einen Deal auszuhandeln, mit dem die Arbeiter*innen zufrieden waren. Craig machte sich Sorgen darüber, was auf lange Sicht zwischen der Gewerkschaft und dem Management passieren würde, wenn sie keine Einigung erzielen konnten.

Der Ortsverband hatte vor kurzem eine Strafe von 50.000 Dollar für eine illegale Arbeitsniederlegung vor vier Jahren gezahlt. Die Leute im Gewerkschaftsbüro waren ein wenig schreckhaft geworden. Dazu kam eine fünftägige Suspendierung, die über 100 Arbeiter*innen erhalten hatten. Ein weiterer Verstoß gegen den Tarifvertrag könnte noch mehr Geldstrafen nach sich ziehen; es gab viel Gründe anzunehmen, dass die Regierung bei einer weiteren Eskalation die eigene Reaktion eskalieren würde, um den Arbeitsfrieden zu wahren. Die betriebsseitigen Arbeitsbeauftragten wussten das und sagten das auch den hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter*innen. Eine*r der Arbeitsbeauftragten würde sagen: „Sie sind die verantwortlichen Vertreter. Sagen Sie Ihren Arbeitern, sich an den Vertrag zu halten und wieder an die Arbeit zu gehen.“ Es fielen auch Andeutungen, dass sie an anderer Stelle nachgeben würden, wenn wir ihnen ein wenig Spielraum in der Frage des Force-Back geben würden.

Wie Craig war auch Ike ziemlich aufgeregt, aber aus anderen Gründen. Ike war noch nicht lange als Funktionär tätig, und er betrachtete das Ende des Force-Back als eines der aufregendsten Dinge, die er im Betrieb erlebt hatte, seit er bei der Post angefangen hatte. Ike fragte Craig dann nach den Kosten, die entstehen, wenn man eine Beschwerde bis zur letzten Stufe der Schlichtung bringt. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie man die Zahlen berechnen kann, aber die Gesamtkosten nach Hotelzimmern und Schiedsrichterhonoraren gehen immer noch in die Zehntausende. Wenn man das berücksichtigt, war das Bußgeld für Delton nicht wirklich viel teurer als ein paar hochkarätige Klagen. Craig war durchaus bereit, sich das anzuhören, aber es gab noch etwas anderes, das ihm Sorgen machte.

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„Komm schon Craig“, unterbrach ihn Ike, „die Solidarität unter den Briefträger*innen im Betrieb war noch nie so stark. Die Gewerkschaft ist deswegen stärker geworden; außerdem haben wir den Konzern gezwungen, das Personalproblem zu lösen. Was kann daran schon schlecht sein?“ Auch das war richtig. Der Konzern stellte so viel Personal ein wie seit Jahren nicht mehr. Sogar die Arbeitsbeauftragten des Unternehmens gaben zu, dass dies eine direkte Folge der Kampagne war. Aber jetzt war es an Craig, Ike zu unterbrechen.

Das Management spuckte große Töne, und einer der Chefs sagte, sie wollten Harjit feuern.

Er fuchtelte verärgert mit den Armen. „Du willst wissen, was die Kehrseite ist? Die Kehrseite ist das hier!“ Mit Schwung knallte Craig den Brief mit Harjits Namen auf den Tisch. Es war ein Disziplinarbrief. Das Management spuckte große Töne, und einer der Chefs sagte, sie wollten Harjit feuern. „Weißt du, was Harjit aus der Patsche helfen wird? Wenn wir ein gutes Verhältnis zum Management haben, können wir den Job dieses Typen retten. Wenn nicht, muss er nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern gehen und ihnen sagen, dass er gefeuert wurde.“

Ike blinzelte und schluckte. Vielleicht hatte Craig recht. Es ist nicht so, dass er nicht an die Möglichkeit einer Entlassung gedacht hätte. Wir alle sprachen bei den Treffen unserer Organizing-Komitees oft über das Thema Entlassungen. Wir sprachen darüber, dass das wahrscheinlich kommen würde und wir gegen die Disziplinarmaßnahmen kämpfen mussten. Dies war jedoch real, es war nicht nur eine hypothetische Möglichkeit. Er kannte Harjit und mochte den Kerl. Sie hatten erst in der Woche zuvor in einer Bar bei Harjits Wohnung ein Bier getrunken. Er hatte Harjits Frau und Kinder kennengelernt. Ike dachte an Harjits Frau und daran, wie es für ihn sein würde, ihr zu sagen, dass er gefeuert worden war. In diesem Moment sah Ike, aus welcher Warte Craig das Ganze betrachtete; vielleicht mussten wir tatsächlich versuchen, einen Teil der Gewerkschaft im Dialog mit der Geschäftsleitung zu halten. Es gibt eine Zeit, in der wir auch auf unsere Mitglieder aufpassen müssen.

***

Harjit legte nach seinem Telefonat mit dem Gewerkschaftsbüro den Hörer auf. Sie sagten, das Management wolle Blut sehen. Er stellte sich vor, seiner Familie zu sagen, dass er gefeuert wurde, und fühlte sich leicht übel. Seine Kolleg*innen waren wütend. Er ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben, während er erklärte, warum seine siebzig Kolleg*innen geschlossen in seine Disziplinarbesprechung marschieren sollten, um sie zu sprengen. Beim Sprechen zitterte seine Stimme zitterte ein wenig. Sheila war außer sich vor Wut auf das Management und sie wollte Blut sehen. Sie schrie: „Wir setzen uns für unsere Gesundheit und Sicherheit und unsere Arbeitsplätze ein, und sie reagieren so? Das können wir nicht zulassen!“ Harjit versuchte, sie zu beruhigen, dann machte er sich mit seinem gewählten Gewerkschaftsvertreter auf den Weg zum Büro, um das Meeting abzuhalten.

Nichts hält Gewerkschaften so sehr zurück wie die andauernde Notwendigkeit, zu verhandeln, einen Deal zu machen.

Es heißt, dass „Interessen-Ausgleich“ die Kardinalsünde der Gewerkschaftsbewegung ist. Dies ist unbestreitbar wahr. Nichts hält Gewerkschaften so sehr zurück wie die andauernde Notwendigkeit, zu verhandeln, einen Deal zu machen. Die Gewerkschaften werden oft in eine Position gezwungen, in der sie nicht den Kampf gegen den Chef führen, sondern zwischen den Arbeiter*innen und Bossen vermitteln. Es gibt einen enormen Druck auf Gewerkschaftsfunktionäre und ‑aktivist*innen, direkte Aktionen auszubremsen. Je nach Ausmaß der Aktion kann es zu Geldstrafen gegen die Gewerkschaft kommen, ihre Funktionär*innen oder sogar die Mitglieder, die sich selbst beteiligen. Je nachdem kann es auch gerichtliche Verfügungen, Gefängnisstrafen oder sogar Kündigungen geben. Es ist oft verlockend zu sagen, dass nichts getan werden kann, wenn es keine juristische Grundlage zum Handeln gibt. Repression ist offensichtlich Teil des Kampfes und erwartbar, aber wenn angesichts von Menschen, die in der ganz realen Welt Opfer bringen, Kompromisse gemacht werden, hat das Anprangern dieser Sünde – vor dem Hintergrund bestimmter, sehr trostloser Umstände – keinen Einfluss auf die wahrgenommene Notwendigkeit derselben. Das kann dazu führen, dass Gewerkschaftsfunktionär*innen gemäß einer anderen Denkweise und eines anderen Zeithorizonts handeln als kämpferische Gewerkschaftsmitglieder am Arbeitsplatz.
Wir sollten Mediation nicht als schlechte Wahl begreifen, sondern als Ergebnis eines bestimmten Gleichgewichts der Kräfte auf der Arbeit und in der Gesellschaft insgesamt. Es ist verlockend zu denken, dass die Vermeidung von Mediation nur die Frage eines gut ausgebildeten politischen Bewusstseins ist. Es ist verlockend zu denken, dass Arbeiter*innen und ihre Organisationen nicht in diese Falle tappen würden, wenn sie nur die richtige Politik hätten. Gute Politik ernährt jedoch nicht ihre Kinder und zahlt nicht die Miete.

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Als Harjit und sein Gewerkschaftsvertreter weggingen, holte Sheila alle von der Etage zu einer Besprechung in den Pausenraum. Sie wusste, dass die Bosse an Harjit ein Exempel statuieren wollten. Langsam fanden sich die Briefzusteller*innen und die Innenarbeiter*innen im Pausenraum ein und nahmen auf der anderen Seite des Depots Platz. Die Arbeitsstellen waren alle unbesetzt. Sie machte sich Sorgen, dass das Management Harjit feuern würde. Sie dachte darüber nach, was das für ihn und seine Familie und für die Organisierung am Arbeitsplatz bedeuten würde. Sie wusste, dass Harjit nicht wollte, dass jemand die Disziplinarsitzung störte. Sie wusste auch, dass das Management seine Leute im Raum hatte, die ihnen über das Gespräch im Pausenraum berichten würden. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie selbst einen Brief von der Geschäftsleitung bekommen könnte, auf dem ihr Name stand. Sheila begann, die Besprechung im Pausenraum zu moderieren. Die Sitzung war unruhig und verfing sich immer wieder in Nebendebatten.
Ein Briefträger schlug koordiniertes Krankmachen vor. Viel Nicken und ein schnelles Handzeichen zeigten, dass es eine klare Mehrheit gab. Sollte Harjit suspendiert werden, würde das eine Krankschreibung für die Dauer der Strafe nach sich ziehen; sollte er gefeuert werden, würde das einen unbefristeten wilden Streik bedeuten. Die Arbeiter*innen in Harjits Depot vereinbarten, sich solange krankzumelden, wie Harjit nicht zu Arbeit erscheint. Kleine Aktionen fanden auch in einigen anderen Depots und in der Postzentrale statt, die von einem lokalen Komitee von Aktivist*innen in der ganzen Stadt organisiert wurden.

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In unseren Kämpfen bei Kanada Post hatten wir die politische Position, dass wir nicht zwischen den Arbeiter*innen und dem Chef vermitteln würden. Noch wichtiger waren jedoch unsere langfristigen Beziehungen zu den Kolleg*innen und unsere Erfahrungen bei der Organisierung am Arbeitsplatz. Mittels Aktionen schufen wir ein Strategie der langsamen Eskalation und des Aufbaus von Solidarität am Arbeitsplatz. Harjit stand eine ganze Reihe von Anführer*innen beiseite, die bei sich der Arbeit dazu entwickelt hatten, durch viele Aktionen am Arbeitsplatz, die mit Kaffeepausentreffen begannen, dann zu Märschen auf das Büro der Chefs führten und schließlich dazu, dass die Angestellten sich weigerten, Überstunden zu leisten. Das bedeutete, dass Anführer*innen wie Sheila vor Ort in der Lage waren, unabhängig und schnell genug zu handeln, um Forderungen durchzusetzen.

In unseren Kämpfen bei Kanada Post hatten wir die politische Position, dass wir nicht zwischen den Arbeiter*innen und dem Chef vermitteln würden.

Ein paar Tage später sagte das Management, dass sie in Harjits Akte einen Vermerk eintragen würden, es jedoch weder eine Suspendierung noch eine Kündigung geben sollte. Wir hatten eine Kostprobe unserer eigenen Macht bekommen.

Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog Spuren der Solidarität und ist ebenfalls in dem Buch "Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand" enthalten.

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